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Die Fahrrad-Vase

Ästhetisierungstheoretische Überlegungen eines Stadtradelstars

Die meisten Stadtradelstars sind natürlich auch an Kulturtheorie sehr interessiert und lesen jede Menge dicker Bücher zu diesem Thema – zum Beispiel die von Andreas Reckwitz. Seine seit vielen Jahren verfolgte Großthese betrifft die Ästhetisierungs- und Singularisierungstendenzen in spätmodernen Gesellschaften. Er meint, Menschen unterliegen aktuell einem Kreativitätsdispositiv – d.h.: nicht kreativ sein zu wollen geht gar nicht! Er geht sogar noch weiter und sagt, dass gesellschaftlich formulierte Erwartungen existieren, dass sich Menschen als einzigartig, eben als “singulär” inszenieren sollen. Beiden Entwicklungen ist dabei eine große Paradoxie inhärent. Wenn am Ende alle durch ihre Kreativität einzigartig geworden sind, sind sie irgendwie ja doch wieder alle gleich! Für Reckwitz sind diese gesellschafltichen Entwicklungen als Gegenmodell zur allseits geforderten Vernunft und Disziplin zu interpetieren. Das Wilde, Ursprüngliche und Natürliche finde seinen Ausdruck in Kreativität und Singularität, es sei Refugium und Rückzugsort vom rational organisierten Alltag geworden. Punkt für Reckwitz, würde ich da sagen.

Es entsteht also so etwas wie eine Kreativ-Wettrennen, das – wie informierte Stadtradelstars wissen – auch schon bei Norbert Elias’ zivilisationstheoretischen Überlegungen angelegt ist und bei Pierre Bourdieu zu einem neuen und überzeugenden gesellschaftlichen Stratifikationsmodell führt.

Auch das Fahrrad ist Teil dieses Wettrennens geworden. Und ich würde sagen, dass die Besitzerin des Fahrrads auf dem Foto in diesem Wettrennen ganz weit vorne ist – klarer Platz eins in der Gesamtwertung. Die Fahrradvase ist sehr schön, sie ist zudem sehr außergwöhnlich: nicht aus Plastik oder Kunststoff – nein, aus zerbrechlichem echten Ton! Noch dazu wurde sie in Portugal gefertigt, was ihre Singularität noch weiter steigert, sie also noch “singulärer” macht als sie es wäre, wenn sie aus Morsum oder Ottersberg wäre. Sie wird stets mit neuen Blümchen bestückt, die gehegt und gepflegt werden. Eine echte Tonvase am Fahrrad! Hier vereinen sich Kreativität und Singularität zu einem ästhetischen Genuss, der den hegemonialen Diskurs des Kreativseins in sich und weiter trägt. Nachahmung wird nicht empfohlen (siehe Pardoxon oben).

Ich verspreche, morgen kommt wieder ein handfesteres Thema. 🙂