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Das große Interview

Als ehemaliger Stadtradelstar hatte ich jede Menge Pressetermine. Bzw. eigentlich genau einen. Das ist nicht schlecht und immerhin 1 mehr als im gesamten letzten Jahr! Aber bislang wollte niemand mit mir ein längeres Interview über kommunale Mobilitätspolitik führen. Mir doch egal! Dann interviewe ich mich eben selbst.

Werner: Hallo Herr Reichmann.

Reichmann: Moin.

Wie isses?

Muss.

Sie alte Plaudertasche.

Hm.

Wir wollten eigentlich ein Interview über kommunale Mobilitätspolitik führen.

Dann fang mal an.

Ok. Also. Die Zahl der zugelassenen PKW steigt stetig an. Warum sollten wir ausgerechnet in dieser Situation dem Fahrradverkehr mhr Platz einräumen?

Sowohl die Zahl der Pendlerinnen und Pendler nach Verden als auch die Zahl der zugelassenen PKW nimmt tendenziell zu. Die Verkehrsflächen wachsen aber nicht, und schon gar nicht in historischen Städten wie Verden eine ist. Mehr Menschen müssen auf der gleichen Fläche Platz finden. Dies kann einfach nur gelingen, wenn Verkehrsmittel genutzt werden, die diese Fläche bestmöglich nutzen. Das sind: der öffentliche Verkehr und der Radverkehr. Der Autoverkehr benötigt mit Abstand die meisten Flächen, vor allem wegen des Parkraums.

Aber wenn es mehr Autos gibt, müssen wir dann nicht einfach mehr Straßen bauen?

Nein sollten wir nicht. Ich mache da mal eine verhaltensökonomische Rechnung auf: Je geringer der zeitliche Aufwand und je höher der Komfort ist, desto eher werden wir eine Route nutzen. Ab einem bestimmten Mehraufawand, beispielsweise duch Stau, durch weitere Strecken oder müffelnde Sitznachbarn, werden wir uns eine Alternaitve suchen.
Umgekehrt gilt: Je flüssiger der Verkehr ist, desto mehr Menschen werden die Route zu der jeweiligen Zeit nutzen. In einer verkehrsökonomisch idealisierten Welt stellt sich ein Gleichgewicht ein. Das ist übrigens auch der Grund warum bei angekündigten temporären Änderungen (z.B. bei der Einführung von so genannten Pop-Up-Radfahrsteifen in deutschen Großstädten) nirgends langfristig ein Verkehrschaos entstanden ist. Die Menschen stellen sich einfach um und nutzen andere Routen. Bemerkenswert dabei ist, dass bei der Entscheidung für die Staustrecke nur die individuellen Kosten relevant sind. Dass es mit jedem weiteren Auto für alle langsamer vorangeht, interessiert die meisten Menschen als Einzelperson nicht. Ein Teil der duch Stau entstandenen Kosten werden also nicht von denjenigen getragen, die dafür verantwortlich sind.

Sollte man nicht einfach die Mehrheit folgen und kräftig in die Straßeninfrastruktur investieren?

Autos benötigen mehr Platz, verursachen mehr Lärm, emittieren mehr Luftschadstoffe, und kosten mehr Geld als alle anderen Verkehsmittel. Außerdem ist der erdölgetriebene Kraftverkehr für nahezu alle Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor verantwortlich, das sind rund 20% aller Treibhausgasemissionen in Deutschland!
Für die meisten ist die Wahl eines Verkehrsmittels eine Abwägung von Aufwand und Nutzen. Es gibt fast immer ein Alternative zum Auto. Unter den derzeitigen Bedingungen bedeutet die aber häufig, länger unterwegs zu sein, häufig umsteigen zu müssen, nass zu werden, zu schwitzen oder unterwegs keinen Großeinkauf machen zu können.

Um ehrlich zu sein, wenn ich mich so umsehe, dem einen oder der anderen würde es nicht schaden, hin und wieder ein bissl zu schwitzen.

Das haben jetzt Sie gesagt.

Wer jetzt?

Na Sie!

Ok. Wenn ich Sie richtig verstehe, würde die Entscheidung, welche Form der Mobilität gewählt wird, anders ausfallen, wenn die Bedingungen andere wären.

Exakt. Wenn die Kosten (und damit meine ich nicht nur finanzielle Aufwändungen sondern auch Zeit, Komfort, Ärger, Pünktlichkeit etc.) einer Mobilitätsform steigen, wird sie dadruch unattraktiver und die Menschen suchen sich was Anderes.

Und warum macht man das dann nicht einfach?

Naja, das ist halt nicht so einfach. Zum einen stehen der Veränderung von Verhalten Gewohnheiten und Mentalitäten entgegen. Das ist alles gut erforscht und wir wissen, dass es sehr kompliziert ist, die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu erreichen bzw. sie an den unterschiedlichen Punkten, an denen sie stehen, von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen. Zum zweiten reden wir hier über Infrastruktur, die eben eine massive materielle Dimension hat. Eine Straße ist nicht so einfach umgebaut, das kostet viel Arbeit in Planung und Umsetzung, Besitzverhältnisse müssen beachtet werden etc. Der Bau autogerechter Städte ist auch nicht von heute auf morgen passiert sondern hat ja auch 2 bis 3 Jahrzehnte gedauert.

Aha. Gibt es noch ein drittens?

Ja klar. Drittens gibt es einfach gewachsene Strukturen der Organisation von Verkehr. Ein Beispiel: Die Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen (FGSV) legt fest, ab wann ein Zebrastreifen installiert wird oder wie lange Fußgänger maximal an der Ampel warten müssen (115 Sekunden!). Dieses Gremium tagt komplett ohne Öffentlichkeit und ist nicht demokratisch legitimiert aber es greift in gesellschaflitch relevante Bereiche ein. Die FGSV hat sich über Jahre vor allem mit dem Bau von Straßen, Brücken und Tunnels beschäftigt um möglichst vielen Autos gerecht zu werden. Aktuell gibt es aber in vielen Kommunen, Ländern und auch beim Bund politische Ziele, die auch auf andere Mobilitätsformen setzen. Da gibt es also eine Diskrepanz zwischen politischen Zielen und einer historisch gewachsenen personellen und organisatorischen Struktur!

Klingt alles irgendwie kompliziert.

Ist es auch. Es ist ja zusätzlich auch noch ein Gerechtigkeitsproblem! Die öffentlichen Flächen sind aktuell vor allem dem Autoverkehr gewidmet. Auch wer gar nicht Auto fährt, also zum Beispiel sämtliche Stadtradelstars, muss sich dem unterordnen. Eine Vergrößerung der Flächen für Fußgänger und Radfahrerinnen würde also niemandem etwas wegnehmen sondern einen Zustand herstellen, der der Allgemeinheit gerecht wird.

Hm.

Sind sie schon mal gemeinsam mit einem kleinen Kind auf dem Fahrrad durch Verden gefahren? Das ist – vorsichtig ausgedrückt – sehr, sehr gefährlich und eigentlich ist es die Hölle. Jedenfalls kein Vergnügen und es macht einem bewusst, wie sehr die Stadt auf den Autoverkehr ausgerichtet ist. Der Statz stimmt leider: Die Stadt ist aktuell für Autos gemacht, nicht für Kinder. Auch in den Nebenstraßen und auch in den Wohngebieten. Ich bin da immer fix und fertig nach so einer kleinen Radtour.

Oje. Ich finde das Interview jetzt schon ganz schön lang.

Ich auch, lass uns Schluss machen.

Ciao.

Tschüs.

(Dieses Selbstinterview wurde unter Zuhilfenahme der Arbeiten von Axel Wolfermann (HS Darmstadt), Alexander Rammert (TU Berlin), Jana Holz und Martin Fritz (Universität Jena) geführt.)